Die Kälte


Er zog durch die Straßen der Stadt, ihm war kalt. Der Schnee hatte die Wege zugedeckt und weit breit war keine menschliche Spur zu entdecken; außer der Spur, die er sah, wenn er zurückblickte, hatte nichts das jungfräuliche Weiss der Schneedecke berührt. Er war einsam, es war kalt.

Wo waren die Menschen geblieben, die vor ein paar Tagen die Stadt mit ihrer Hektik belebten, von einem Geschäft in das nächste huschten und ihn keines Blickes bedachten. Merkwürdiges Volk ist das, plätzlich spenden die Leute Unsummen, beachten den Penner, Sandler auf der Straße und geben ihm einen kleinen Geldbetrag, als ob jemand mit dem Geld sein Gewissen beruhigen könnte. Wenigstens profitieren die Armen davon, wenn auch die Liebe in dieser Zeit zu kurz kommt, so ist es gut und er darf nichts dagegen sagen sonst sähe die Welt noch schlechter aus.

Diese Kälte machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hatte. Wenn der Wind nicht so schneidend harrt blasen würde. könnte er es vielleicht aushalten. Diese Stadt schien tot, wenn da nicht die Fenster in den Betonburgen wie ferne leuchten würden.
Was spielte sich wohl hinter diesen Fenstern ab?
Spannungsgeladen haben die Kinder auf ihre Geschenke gewartet, während die Eltern die Geschenke und den Baum herrichteten. Danach hatten sie gemeinsam einen gemütlichen Abend verlebt.
Auf die Straße geht jedenfalls keiner - außer ihm keiner. Er war allein auf den einsamen Straßen, es war bitterkalt. Nicht einmal die Sterne waren am Himmel zu sehen. Dafür fielen leichte zarte Schneeflocken auf die Erde herab. Man konnte nie abschätzen, wohin sie fallen würden, da der Wind sie hin und her riß. Manchmal, manchmal klatschte einem eine große naßkalte Flocke mitten in das Gesicht. Er erschrak jedesmal und wurde aus seinen Gedanken gerissen, wenn dies geschah.

Liebe wissen die Menschen in dieser Stadt überhaupt noch was Liebe ist?

Vor einer Woche hatte er einen Menschen getroffen, der am Straßenrand stand und in der Kälte den Daumen in die Luft hielt, um mitgenommen zu werden, da dieser selbst kein Fahrzeug hatte. Jener Mensch hatte ihm erzählt, daß es leichter wäre zu jeder anderen Jahreszeit bei jemanden mitzufahren, jetzt würde jeder nur an sich und seine Probleme denken - eigentlich absurd.
Ja, - dachte er - irgendetwas stimmte mit diesen Menschen hier nicht, diese Meinung vertrat er auch In einer Zeit, in der die Nächstenliebe am meisten und am häufigsten gepredigt wird, denken die Menschen am wenigsten daran, außer in einem sporadischen Anfall von schlechtem Gewissen. Vor Zweitausend Jahren sagte jemand viel, was gehts mich heute noch an - scheinen sich wohl die meisten zu denken. Haben diese Menschen überhaupt etwas von diesem Mann gehört, dessen Fest sie feiern?

Der heutige Tag ist schon merkwürdig, da er sogar ruhiger als ein Sonntagabend ist. Oder sollte man sagen, Montagmorgen?

Außer dem Heulen des Windes und dem Knarren der Straßenlaternen hörte er nichts. Ach doch, da war noch das Ächzen seiner Schritte im kalten Schnee und sein Atem, der gleichmäßig rauchige Wolken von Kondenswasser in der Luft hinterließ.
Er fror

Bald würde er reich sein, dachte er und dennoch konnte er sich nicht darüber freuen. Was nützte ihm schon Reichtum und Macht, wenn ihm die wirklichen Dinge im Leben doch fehlen würden. Natürlich ist es angenehm im Winter nicht mehr zu frieren. Selbstverständlich würde er sich auf das Haus freuen. das er sich bauen würde. Doch auf alles möchte er verzichten, da es nichts wert ist. Er merkte wie er mit jedem Schritt zu Reichtum und Macht kälter wurde und werden würde, wie diese Menschen. Er war einsam, ihm war kalt.

Der Schneefall wurde stärker, auch der Wind blies fester und schneidender. Er hüllte sich besser in seinen Mantel und zog das Kinn an die Brust. Die Schuhe schienen der Nässe bald nicht mehr standzuhalten, seine Zehen fühlten sich taub an.

Was braucht der Mensch eigentlich, was wünscht er sich?
Er überlegte.
Als erstes Nahrung und Luft, um überhaupt zu leben und gesund und lang sollte das Leben sein. Der Mensch muß schlafen, aber natürlich wollte er angenehme Wachzeiten. Das ist das Nötigste. Jeder will Geld, oder beziehungsweise das, was er sich davon kaufen kann, außerdem mag es einem Sicherheit vermitteln. Ein Leben im Jenseits - ein Wunsch, der sich nicht verleugnen ließ, denn ein endgültiges Ende war ihm suspekt und zuwider. Anerkennung und Bedeutung braucht der Mensch, zumindest benötigte er das Gefühl, anerkannt und bedeutend zu sein, doch war es das, was ihn glücklich machte?

Was fehlte ihm nur und hatten es diese Menschen hinter den Fenstern teilweise gefunden?

Die Kälte ist grausam in dieser dunklen Nacht. Wenn er nicht bald irgendwo einkehrte, würde ihn der Tod holen. Seine Nase fühlte sich eher wie ein Eiszafen an als wie ein Teil seines Gesichtes.
Die Straßenbeleuchtung ist ausgefallen, ein diffuses Licht erfüllte zwischen den Flocken die Häuserschluchten.
Sie fehlte. Das wünschte er sich noch, lieben und geliebt zu werden, sexuellen Genuß, vielleicht auch Kinder. Man braucht einen Menschen für den man da sein kann und der für einen da ist. Jemanden dem man Glück, Freude, Herzenswärme und Geborgenheit schenken kann und der einem selbiges auch bietet. Das Ganze schien durchaus erreichbar, doch ...
Vielleicht würde er nicht so frieren, wenn er nicht ein solcher Idiot gewesen wäre.
Das Mondlicht kam ein bißchen durch die Wolkendecke.
Diese Menschen denken doch nicht nur an sich hinter ihren Fenstern. Sie denken an ihre Frauen, Kinder, Männer.
Ihm ist trotzdem kalt, obwohl das Schneien nachgelassen hatte. Etwas fehlte ihm. Hier und da riß die Wolkendecke auf und ein Stern war zu sehen.
Klar fehlte ihm etwas.
Er stapfte schneller durch den Schnee und ihm war gar nicht mehr so kalt.
Es hatte zu schneien aufgehört und der Himmel war sternenklar. Der Wind war nicht mehr so kalt.
Eigentlich sollte ich was tun. Er drehte sich um, ging ein paar Schritte, blieb stehen, überlegte und rannte; hinter ihm wirbelte der Schnee.
Die Sonne schien zu leuchten, ihm war als ob Blumen blühten und die Wärme eines herrlichen Frühlingstages ihn umfänge. Er lief, rannte und rannte, vollführte zwischendurch eine Drehung, umarmte willkürlich einen verdutzten Passanten.
Er kam an seinen Ausgangspunkt zurück und öffnete die Tür. Seine Frau schaute ihn an und er sah ihr Erstaunen."Entschuldigung, mein Schatz! Fröhliche Weihnachten!" , sie ließ sich von ihm umarmen, ,denn sie spürte seine Veränderung.

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