Das Kreuz oder die Buchstabensuppe
An der mit Plastik verschalten Decke der Turnhalle
hingen an Seilen braune Holzringe. Um mich herum standen miteinander
verschraubte Spanplatten, damit mich niemand beobachten konnte.
Vor mir stand eine Schulbank und da saß ich nun im Wahllokal
und wußte nicht, was ich wählen sollte. Natürlich
hatte ich mich mit den Wahlprogrammen von der Autofahrerpartei
über die Christsozialen, den Grünen, Kommunisten, Liberalen,
Republikanern, Sozialisten bis zur allerletzten Partei auseinandergesetzt.
Autofahrer, Bündnisgrüne, Christsoziale, die einen fairen
Gegner heutzutage in jedem Kleinkrieg lächerlich machen,
neuerdings ohne parteiliche Querelen reden so tatkräftig
über verschiedene Werte xenophobisch, yuppiehaft, zerstörend
daher, das einem die Lust auf das Wählen vergangen ist.
Da erscheint einem blau gleich grün und weis
gleich schwarz. Vor mir lag der Wahlzettel mit Namen und Kreisen
rauf und runter und jeder Kreis schrie "Kreuz mich an!".
In mir blieb nur der Gedanke: Einer ist doch wie der andere. Eine
einzige Buchstabensuppe war das. B wie geh und zahlen zu Zahlen
wie 90 zu C gleich S. Wo war denn da noch ein Unterschied?
Die meisten hatten ein D im Namen und nannten sich
Demokraten, demokratisch oder sonst was schönes. Doch bei
manchen Programmen kamen mir mehr als Zweifel, ob der Name der
Inhalt ist. Wie David gegen Goliath kommt man sich vor und schon
steht man wieder vor einer Partei und ich weiß nicht, was
ich wählen soll. Ob freie Bürger in einem freien Staat
nicht hier bereit sind ihre Freiheit abzugeben? Nein, ich werde
wählen, wenn ich auch nicht weiß, wen ich nun wählen
werde!
"Sind Sie fertig?", fragte ein Helfer,
ohne hereinzuschauen. Ich verneinte seine Frage. Habe ich denn
schon solange darüber nachgedacht?
Liste eins und zwei und drei, welcher ist für
mich dabei? Es wird sich doch was finden lassen. Ob Grün
ob Grau ob Gelb ob Blau und Rot und Weis und Schwarz - bei soviel
Farben ist doch eine dabei!
Was soll ich nur wählen?
Alle haben sie um meine Stimme gekämpft, doch
keiner hat seine Lösung betont, sondern nur die schlechte
Lösung der anderen. Alle glauben wohl, nur weil die andere
Lösung schlecht ist, sei ihre Lösung gut. Sie haben
mich sogar überzeugt, ihre Lösungen sind alle falsch,
aber einer muß doch die Probleme lösen. Nun soll ich
diesen Einen wählen, der eine Lösung findet. Doch alles,
was hier zur Wahl steht, ist ähnlich. Es ist doch alles X
wie Y.
Das war es!
Heureka, in den ersten Kreis schrieb ich ein schönes
gleichmäßiges X wie Xaver, dann schrieb ich in den
zweiten Kreis ein X wie Xanthippe. Der dritte Kreis schien mir
wie ein O und mir fiel da gleich Xylophon zu ein. So setzte ich
in jedes O ein X und beim letzten Kreis setzte ich gemächlich
ein Ypsilon.
Ich hatte gewählt.