.
Ich sah in den Spiegel und erblickte plötzlich und unerwartet einen Mann. Dreckig und verkommen war dieser
Mann. Seine blauen Augen schienen mich zu fixieren. Ich schaute dabei nur mein eigenes Spiegelbild an, doch
erkannte dort etwas Neues und Unbekanntes sich selbst. Ich zog nochmals an der selbstgedrehten Zigarette und
starrte in dieses erwachsene Gesicht, das unrasiert zurückglotzte und eine Männlichkeit und ein
Selbstbewußtsein ausstrahlte, welches das Kind in mir überraschte.
Dieser Mann konnte etwas schaffen und etwas bewegen. Das war nicht mehr der unsichere und nervöse
Mensch. Die wilde Frisur und die Nickelbrille gehörten zu einer Persönlichkeit, die ein intellektueller Maler
oder Schriftstelle sein könnte. Nur eine Kleinigkeit trennte diesen Mann im Spiegel von dem Penner. Selbst
wenn alles noch so heruntergekommen und fertig aussah, schien hinter diesen Augen ein unverwüstlicher Geist
zu leben, der alles äußere aufgeben würde, um nur im Innernern keinen Zentimeter nachzugeben. Ob
Schulden, Hunger oder Not sich dabei hineindrängen würden, dieser Geist ließe sich dadurch nicht
beeindrucken und lieber zu Grunde gehen als auch nur einen Millimeter nachzugeben. Diese Härte war es, die
mich überraschte. Diese unvermutete Willenskraft überraschte das kleine Kind und rebellierenden
Jugendlichen. Dieser Mench war mir fremd. Ich mußte schon lange vorher für andere diesen Ausdruck geboten
haben, nur mir selbst war er nicht bewußt. Ja, ich galt als verrückt und viele hielten mich für einen Narren,
allerdings schien es mir der Wahnsinn eines van Gogh's wie er von Kirk Douglas dargestellt worden war. Nein
- das konnte ich nicht sein. Spiegelbilder sind nicht die Realität, sondern nur ein billiger Abklatsch der
Wirklichkeit. An Irgendwas muß sich der Mensch wieder aufrichten und sei es nur die Andeutung von dem
Was, ein Hauch von einem Unterschied konnte aus dem verachteten Subjekt einen überheblichen und stolzen
Menschen machen, der im größten Dreck und Sumpf die gesamte Welt als ihm unwürdig und ihm haßenswert
bezeichnete und sich somit selbst aus dem Schlamm zog ohne dabei den Abgrund zu verlassen, in dem ich
mich befand. Dieses Spiegelbild zog seinen Besitzer soeben an dem Schopf aus dem Sumpf. Die Geschichten
von Münchhausen erwachten zum Leben und stellten jetzt mehr Wahrheit als Lüge dar. Wie anders als auf
diese Art konnte ein so sinnloses Geschöpf auch in dieser Welt existieren. Nur so konnte ich würdig zugrunde
gehen. Jedoch tauchte ich damit auch in der Weltgeschichte im Allgemeinen und Besonderen absolut unter.
Wenn ich jemals auftauchen würde, dann aller Wahrscheinlichkeit höchstens nach meinem Tode. Das ist nicht
gerecht. Verbitterung durchströmte diese Seele, die doch keinen Anspruch auf Aufmerksamkeit und
Anerkennung besaß. Von den Ohnmachtsvisionen ist es kein großer Schritt zu Allmachtsgedanken. Es ist die
unrealistische Rache, die leider viel zu oft bei manchen kleinen Gestalten dieser Welt Attentäter
herrvorbrachte, welche zu wirklichkeitsnah ihre Ohnmacht in Macht verwandelten. Der Mörder von Lincoln
mag zu jenen Menschen gehören. Sicherlich gehörte ein Hitler ebenso zu diesen armseligen Gestalten wie die
psychisch verwirrte Lafontaine-Attentäterin. Doch sind dies die Versager unter den Ohnmächtigen. Die Helden
der Ohnmacht sind unbekannt. Sie tauchen nirgends auf. Sie denken und wissen und kennen ihre Macht.
Manchmal träumen sie davon, doch dann sind sie stolz auf sich in ihre Ohnmacht ergeben. Ihre Macht besteht
darin, daß sie auf Macht verzichten können. Lieber sind diese Narren im Angesicht dieser Welt und ertragen
geduldig, was die Menschen jenen Menschen antun können. Wie toll und großartig halten sich doch die
Mächtigen und wie klein und erbärmlich sind sie doch gegenüber den Ohnmächtigen. Diejenigen, die die
Ohnmacht bewältigten sind stärker und edler als die Mächtigsten und Edelsten Menschen dieser Welt, die ihre
Macht demonstrieren. Wenn sie ihre Ohnmacht zeigen, dann werden sie zu einer Macht, die keine Macht
dieser Welt wirklich durchbrechen kann. Die Macht kann nicht mehr machen als die Ohnmächtigen töten,
doch vor den Märtyrern hat die Macht dann noch mehr Angst als vor lebenden Ohnmächtigen. Dieser Geist des
Ohnmächtigen blickt mich durch diesen Spiegel an.
|