Am nächsten Tag wachte ich mit einem Kater auf. Es wunderte mich nicht, doch die Kopfschmerzen störten mich
trotzdem. Mir war zum Speiben elend. Da war ich nun am Rande der Sahara mitten in einer Oase noch auf
marokkanischem Gebiet und wußte eigentlich nicht was ich hier sollte. Ich befand mich in einem Irrtum, wenn ich
glaubte auch nur einem Menschen helfen zu können. Ich war wahnsinnig gewesen, als ich mich einfach in mein
Fahrzeug setzte und losfuhr. Ein dummer Verrückter war ich und sonst nichts. Ich stand auf, wusch mir das
Gesicht und blickte in den Spiegel. Mich starrte ein rotes Gesicht, das mit dem blonden Schopf und den blauen
Augen eindeutig einem Mitteleuropäer gehörte, aus diesem milchigen Glas heraus an. Ich gefiel mir gar nicht, so
häßlich hatte ich mich schon lange nicht mehr gesehen. Abdul klopfte höflich an der Tür und ich bat ihn herein,
erfragte mich in seinem Französisch, was ich denn zum Frühstück wollte. Kaffee gab ich ihm als Antwort und er
verschwand wieder. Dann viel mir mit Erschrecken ein, daß ich den marokkanischen Kaffee gar nicht mochte,
zumindest nicht so schwarz wie er hier getrunken wurde. Ich hätte Cafe au lait bestellen sollen.
Ich zog meinen Koffer unter dem Bett hervor und wechselte meine Kleidung, da ich mich gestern in meinem Frust
nicht einmal ausgezogen hatte. Nachdem ich mich angekleidet hatte, ging ich frühstücken. Der Kaffee schmeckte
so grauenhaft, wie ich es erwartet hatte, dafür hatte ich einen wunderschönen Blick über Figuid. Figuid war die
letzte Oase vor der Tanezrouft, doch für die Augen eines Mitteleuropäers war es nicht zu üppig bewachsen. Es war
durchaus noch viel Sand zu sehen, doch hatte ich auf dem Weg hierher, durchaus schonmal vierhundert Kilometer
kein Grün zu Gesicht bekommen und so betrachtet war der Anblick der Palmen und der Büsche phantastisch. Hier
und da schlenderten Araber umher, später würde man keinen mehr sehen, da zu Mittagszeit sich nur noch
verrückte Europäer und Amerikaner, die sich an diesen Grenzort verirrt hatten oder nach Algerien wollten,
außerhalb der kühlen Häuser rumtrieben. Der gesamte Bezirk Figuig hatte nur 15.000 Einwohner auf 14
Quadratkilometern. Vielleicht hieß die Oase auch Figig so genau blickte ich da nicht durch und es war mir
eigentlich auch egal. Auf meiner Karte stand Figuid und deswegen nannte ich den Ort auch so. Mag sein, daß alles
dasselbe hieß nur eben in drei verschiedenen Sprachen. Die Protektoratsverträge mit Spanien und Frankreich
wurden immerhin erst 1956 aufgehoben. Das Land war hier hügelig und überall in der Oase sah man die
Steinwälle oder kleine Mauern, wobei der Übergang von einer Art Wall zum Bauwerk Mauer fließend war, sodaß
man aus der Entfernung nicht sagen konnte, ob es sich dort um einen Steinwall oder eine kleine Mauer handelte,
die einen Weg begrenzte. Einmal war ich mit dem Auto in so einen Weg gefahren, der wurde aber immer enger
und zum Ende hin durfte ich den ganzen Weg rückwärts wieder hinausfahren, weil kein Weiterkommen mehr
möglich war und Wenden unmöglich geworden war. Die Straßen waren nicht für Kraftfahrzeuge gebaut worden,
wozu auch, da die meisten Marokkaner kein Auto hatten. Sie waren zu Fuß unterwegs und nur auf langen Strecken
und wenn es schnell gehen mußte kam ein Bus oder ein Auto in Frage. Ich hatte das Gefühl, daß man hier unten
am liebsten noch Pferd, Esel oder Kamel bevorzugte. Die meisten Fahrzeuge hatte ich noch in Oujda und Ceuta
gesehen, je näher ich der Tanezrouft kam, desto weniger sah ich welche und wenn, dann handelte es sich entweder
um einen Lastwagen oder um ein ausländisches Auto wie meins. Irgendwo unterwegs hatte ich deutsche Touristen
mit einem Campingbus aus Tauberbischofsheim gesehen. An der nächsten Tankstelle trafen wir uns prompt, was
nicht weiter verwunderlich war, denn Tankstellen sind selten, sodaß man sich dort immer wieder traf, wenn man
dieselbe Strecke fuhr. Diese Touristen wollten eine Saharatour machen. Sie machten dieses schon das zweite Mal,
erzählten sie mir.
Vielleicht hatten sie auch hier übernachtet, überlegte ich. Ich blickte über die Oase, konnte aber keinen
Campingbus entdecken. Selbst wenn sie hier gewesen wären, hätte ich sie höchstwahrscheinlich nicht entdeckt, da
das Gebiet zu unübersichtlich war. Abdul kam und präsentierte mir seine Rechnung und ich bezahlte schön brav; er
trug mir auch meinen Koffer zum Auto und dann starrte er mich an als ob ich vom Mond käme. Ich wußte ja, daß
Europäer für ihn anscheindend seltene Gäste waren, jedoch war sein Blick diesmal seltsamer und merkwürdig.
Nachdem ich meinen Koffer gerade im Auto verstaut hatte und die Heckklappe schließen wollte, hielt er diese sanft
an und deutete auf die Rücklichter und fing an wie ein Wasserfall zu reden. Ich begriff zunächst nicht was er
wollte, bis ich endlich aus seinem Kauderwelsch das Wort Wasser identifizieren konnte. Wahrscheinlich wollte er
mich auf Kondenswasser in den Rücklichtern aufmerksam machen, allerdings schienen diese in Ordnung zu sein.
Schließlich begriff ich, daß er mir klar machen wollte, wie ich in der Wüste zu Not an Wasser käme. Nach einer
halben Stunde oder mehr Geplapper war mir klar geworden, was bei ihm den Redeschwall ausgelöst hatte und
warum er plötzlich so hilfsbereit mir sämtliche Stellen am Auto erklärte, an denen jemand in der Wüste Wasser
finden konnte. Ich hatte nicht einen Wasserkanister dabei. Abdul hielt mich für einen Todeskandidaten. Die
Tanezrouft mußte wirklich die Hölle sein, wenn ein Araber, der vorher noch daran dachte, wie er seinen Europäer
am besten ausnehmen konnte, plötzlich angesichts meiner Ausrüstung in Panik geriet und mir zuredete es mir noch
einmal zu überlegen. So schlimm würde es hoffentlich nicht werden, versicherte ich ihm. Eigentlich war ich mir da
nicht mehr so sicher, doch jetzt hatte ich zehntausend Kilometer hinter mir, jetzt würde ich hier wegen so ein
bißchen Wüste nicht umdrehen. Ich ließ Abdul konsterniert zurück. Im Rückspiegel sah ich ihn die Schultern
hochziehen und anscheinend kehrte er dann zu seiner Gelassenheit zurück. Soviel schien ihn mein Schicksal auch
nicht anzugehen.
Ich war wieder alleine auf der Straße und das gefiel mir. Welche Schrecken mir auch bevorstehen mögen, es störte
mich im Moment nicht. Ich bewegte mich vorwärts. doch nicht lange bereitete es mir Freude, denn dann hatte ich
schon den marrokanischen Grenzposten vor mir. Glücklicherweise schienen sie an mir nicht viel Interesse zu
haben und ließen mich durch, was mir ungewöhnlich erschien, da mich bisher jede marokkanische Kontrolle von
Kopf bis Fuß und von der vorderen bis zur hinteren Stoßstange durchsucht hatte. Es sei denn ich bot ihnen
Bakschisch an. Doch an der algerischen Grenze wußte ich dann warum sie mich einfach durchließen, sie wußten,
was ich nicht wußte. Ich hätte natürlich ein Visa für Algerien benötigt. Hier war also meine Reise am Ende. Nichts
hätte diese Zöllner zum Erweichen gebracht mich durchzulassen. Ich befand mich im Niemandsland und war
soeben zum größten Trottel der Welt befördert und abgestempelt worden. Ich unterhielt mich mit den deutschen
Touristen und hätte sie beinahe noch in Schwierigkeiten gebracht, doch begaben sie sich sofort auf Distanz als der
Zöllner sie mit mir in Zusammenhang bringen wollte. Beinahe hätte ich ihnen ihre Saharatour vermasselt. Sie
hatten in ihrer deutschen Gründlichkeit selbstverständlich ihr Visa bereits in Deutschland beantragt und erhalten.
Das nächste Amt, wo ich so ein Visa erhalten hätte, lag einige hundert Kilometer hinter mir in Oujda. Ich
realisierte erst wesentlich später, daß es mein Glück war. Zunächst war ich saur und verärgert. Die Marokkaner
wollten mich zunächst nicht wieder nach Marokko lassen, erst als sie mit einem Währungstausch ein dickes
Geschäft machten, strichen sie den Ausreisestempel aus meinem Paß mit einem großen roten ANNULE!. Jetzt
besaß ich wieder Dirham's und befand mich wieder in Marrokko. Und ich raste ersteinmal blind gen Westen dieser
gehaßten Grenze davon. 10.000 Kilometer wegen nichts und wieder nicht gefahren, da kam es auf ein paar geraste
Kilometer mehr oder weniger nicht mehr an. Was hatte mich eigentlich hierher gebracht und wo hatte ich bisher
die Welt verschlafen. Das Ganze mußte einen Sinn haben und wenn ich hier nicht weiter kam, dann mußte diese
Erfahrung einen Sinn haben. Es mußte sinnvoll sein, hämmerte es nur noch in meinem Kopf. Mir wurde bewußt,
daß ich nicht durch die höllische Tanezrouft mußte und mir meine Dummheit zuletzt wahrscheinlich auf verrückte
Art und Weise mein Leben gerettet hatte. Ich sah den Blick von Abdul vor meinen Augen. Jetzt wußte ich auch was
die Blicke mir bisher mitteilten. Sie nahmen mich alle nicht für voll. Selbstverständlich betrachteten sie mich als
Kind, als unvernünftiges lebensmüdes Kleinkind. Ich hielt an und betrachtete mir die Wüste. Die große weite
Fläche dieser Sandwüste vor mir brannte sich in mein Hirn. Von jetzt an würde ich aufhören ein Kind zu sein. ich
wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die mir erst jetzt bewußt wurden, anscheindend hatte ich von der Grenze
bis hierher geheult. Plötzlich sah ich fünfzigjährige Kleinkinder vor meinem geistigen Auge, die seelisch-tot in
Europa Gesellschaft spielten. In ihrem Spiel zerstörten sie die Welt und schoben die Verantwortung dafür auf ihre
geistigen Brüder, wie Kleinkinder das eben tun. Ich wollte nach Äthiopien um dort zu helfen und sah nicht das
Elend vor meinen Augen, weil ich selbst ein solches Kind gewesen war, daß vielleicht nicht begriffen hätte, daß es
ein Kind war. Vielleicht würde es in meiner Schwäche mir nie gelingen zu diesen Kindern durchzudringen, die da
klagen, ob man ihnen nun fröhlich oder traurig kommt, festlich oder ärmlich, keusch oder unkeusch. Doch diese
Kinder Europas waren ärmer als die Ärmsten der Welt, da sie nie geworden sind wie die Kinder, sondern einfach
Kinder geblieben sind. Plötzlich wurde ich mir einer Hölle bewußt, doch diese Hölle war nicht die Tanezrouft.
Sicherlich hatte ich eine Wüste vor mir, doch war die Wüste nicht so deutlich sichtbar wie die Wüste. Es war ein
weiter Weg, aber er war nicht umsonst.