Wesen und Schein,
Wahrheit und Sein




"Besen, Besen sei’s gewesen", sagte der Meister im Zauberlehrling. Der Meister beherrschte das Wesen des Besen. Heutzutage scheint kein Meister weit und breit. Warum? Wahrscheinlich weil der schöne Schein wichtiger geworden ist als das wahre Sein.

Das Wesen eines Produktes zum Beispiel, welches verkauft wird, ist weniger entscheidend als der Schein des Produktes. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ein vielbeworbenes Markenprodukt sich zu wesentlich höheren Preisen verkaufen läßt als ein in der Zusammensetzung identisches Produkt ohne Markennamen.

Oder ich betrachte mir nur die Einladung zu einer Diskussionsveranstaltung: Fünf Politiker diskutieren auf einem Podium für das Fernsehen und die Zuschauer applaudieren zu den abgegebenen Statements. Das Publikum dient nur einem dekorativem Zweck. Das Wesen einer Diskussion ist dabei gar nicht gefragt. Wichtig ist der Schein der Diskussion. Genausogut kann als Beispiel die schöne neue Fernsehwelt dienen Die Schauspieler, die den angeblichen Alltag verkörpern, sind sorgsam vorsortiert und selbst eine Großmutter sieht aus wie eine 30-jährige. Die Darsteller und das Set entspricht dem Wunschdenken der Konsumenten, an der Wirklichkeit besteht eigentlich kein Interesse. Selbst die Inhalte von Talkshows werden sorgsam geplant und die Rede und Gegenrede ist abgesprochen. Der dummen Masse wird Spontanität und freie Meinung suggeriert. Der Schein steht vor dem Sein. Selbst in den Nachrichten wird genau auf die Präsentation geachtet und der Schnitt soll entsprechend unterhalten, auch in der Zeitung wird durchaus mit Fakten geschustert, obwohl die Information wenigstens umfangreicher sind. Die Intelligenz der Gesellschaft wird vom Verstehen und vom Verständnis abgelenkt. Die heutigen technischen Möglichkeit bombardieren die Intelligenz mit Daten im Überfluß. Wieviel von dem Überfluß verstanden worden ist, wird dabei nicht einmal gefragt.

Sagt der Politiker die komplexe ihm bekannte Wahrheit wird er nicht gewählt. Spielt er mit Allgemeinplätzen, die jeder versteht und liefert eine gute Show, sieht die Chance bei gutem Aussehen und dem entsprechendem Image (Abziehbild der Wirklichkeit?) viel besser aus gewählt zu werden.

Wir sprechen von einer neuen Dienstleistungsgesellschaft und verlangen von dem dienstleistenden Personal Freundlichkeit. Weil wir aber das Wesen der Freundlichkeit gar nicht mehr kennen, erziehen wir die Arbeitnehmer zu Floskeln.

Auch ich behaupte, es wäre nur Schein und nicht Wesen, was unsere Gesellschaft bestimmt. Aus welcher Wahrheit heraus könnte sich das behaupten lassen. Was ist Sein im Gegensatz zum Schein?

Ich nehme aus meinen Beispielen die Freundlichkeit. Was soll der Unterschied sein zwischen einer Freundlichkeit, die vom Verhalten bis zur Intonation mit vorgebenen Worten einstudiert ist, und einer Freundlichkeit, die von der erstgenannten möglicherweise nicht zu unterscheiden ist? Nehmen wir an objektiv messbar sei kein Unterschied gegeben. Wenn ich mir das Wesen der Freundlichkeit betrachte, dann ist beim Eingeübten, dieses Wesen nicht vorhanden. Der dressierte Arbeitnehmer mag seinem Kunden gegenüber sogar Haß empfinden, was nicht für Freundlichkeit spricht. Der Kunde hat aber möglicherweise ein diffuses Gefühl. Gefragt, ob sich ein solch trainierter Service verbessert hätte, würde ein Kunde dies sicherlich bestätigen, weil der Service objektiv im Sinne einer messbaren Objektivität freundlicher geworden ist, wenn der Kunde es in unserer Kultur überhaupt noch empfindet. Was den Kunden stört, mag er selbst gar nicht benennen können, und selbst wenn er "scheinbar freundlicher" sagen würde, dann wird das Wort scheinbar sicherlich überhört werden oder er würde eventuell darauf festgelegt, sich zu entscheiden, ob der Service nun freundlicher geworden ist oder nicht. Manager müssen Ergebnisse präsentieren und es liegt in der Psychologie der Sache, daß ein scheinbar nicht akzeptiert werden kann. Das Ziel ist mehr Freundlichkeit und das wurde scheinbar erreicht. Wenn es scheinbar so ist, warum sollte es dann nicht so sein? Ich hebe jetzt einfach einen 50 Tonnen schweren Steinblock hoch. Da liegt hier ein 50000 Kilogramm schwerer Stein und ich hebe ihn hoch. Anscheinend hat er 50 Tonnen, doch wenn ich ihn hoch heben kann, dann kann er, wenn er auf dem Planeten Erde ist, wohl doch keine 50 Tonnen haben oder ich bin ein kleines Weltwunder. Da ich aber kein Weltwunder bin, scheine ich zu lügen. Wenn ich für diese scheinbare Leistung noch Eintrittsgeld nehmen würde, möchte ich nicht wissen, wie schnell der Staatsanwalt hinter mir her wäre, der mir durch Messungen beweisen würde, daß ich betrüge. Doch in meinem Beispiel von der Freundlichkeit könnte ich mir sicher sein, daß kein Staatsanwalt kommt. Aber ist es deswegen weniger Betrug? Die Gesellschaft (Was auch immer das sein mag?) hat sich daran gewöhnt, bei dem nicht Meßbaren betrogen zu werden. Der Glaube alles messen zu können, ist sicherlich auch eine Schuld der Betriebswirtschaft, deren Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger Gary S. Becker einen Menschen konstruieren wie den Homo Oeconmicus, den es gar nicht gibt. Die Autoren von Neumann und Morgenstern reden in "Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten" davon "Wenn wir messen könnten...dann...". Am Ende kommen sie wohl zu dem Schluße, daß wir eben nicht messen können. Das war bereits 1967. 1988 will ein Becker selbst den Selbstmord in mathematisches Verhalten pressen. Hans-Christian Eller kommt in "Anomalien? - Darstellung und Kritik eines entscheidungstheoretischen Konzepts" 1993¹ zu dem Schluß "Was nützen entscheidungstheoretische Konzepte, die einzig ihre unwirklichen Fiktionen für richtig halten?". Das ist zwar keine Ansicht eines Nobelpreisträgers, aber für meine Begriffe zerlegt hier ein Diplomant der Regensburger Universität einen Nobelpreisträger in seine Bestandteile.


Alles in Zahlen und vergleichbaren Daten ausdrücken zu wollen ist sicherlich dem Erfolg der Naturwissenschaften zu verdanken. Die mathematischen Theorien der Physik, wie zunächst die Newton’sche und später die Relativitätstheorie und Quantenmechanik, ermöglichten präzise Vorhersagen über Ereignisse und Phänomene. Dr. Horst Jürgen Helle schreibt im Zusammenhang mit Saint-Simon: ² "Im Gefolge dieses Bekenntnisses" Saint-Simons als Newtonianer "taucht der Gedanke" um 1803 "einer newtonischen Religion mit einem Wissenschaftler als Papst auf." Heutzutage würden wir es wahrscheinlich eher als Katastrophe empfinden, wenn ein Baumeister ein Gebäude nach Gefühl und Erfahrung anstatt nach der Statik errichten würde. Tatsächlich steht auch ein Teil unserer Gesellschaft auf dieser Grundlage. Im Mittelalter war es genau umgekehrt. Selbst wenn wir in unserm Hochmut über vergangene Jahrhunderte über die Eigenart schmunzeln keine rechten Winkel in Wohngebäuden zu verwenden, weil darin der Teufel wohnen könnte, stehen wir doch auf der anderen Seite mit unseren heutigen Gebäuden nicht besser da. Der Schein einer guten Architektur einer Neubausiedlung auf dem Reißbrett bedingt die Entscheidung zu einem Wohngebiet, welches vom Flugzeug aus betrachtet immer noch schön aussieht, aber deren Häßlichkeit innerhalb des Wohngebietes manchmal nicht zu übertreffen ist. Naturwissenschaftlich erscheint die Siedlung bei ihrer Planung vollkommen in Ordnung, nach deren Bau plagen soziale und kriminelle Probleme. Sollte im rechten Winkel etwa doch der Teufel sitzen? Ich würde es weder auf den rechten Winkel einengen noch es so drastisch formulieren, aber dem Wesenskern folgend gibt es Bauweisen ohne dem notwendigen Gefühl in dem das Schlechte sitzt.

Emotionen werden als unwissenschaftlich verdammt selbst dort wo sie Untersuchungsgegenstand sind. Allerdings läßt sich das Gefühl nicht verbannen. Manche Erfindung verdankt ihre Existenz dem Gefühl. Es ist das Sein des Erfinders der dem Wesen der Materie nachspürt. Wie sehr uns das Gefühl beeinflußt mag der Tunneleffekt in Zusammenhang mit Überlichtgeschwindigkeit zeigen. Dieser Effekt wäre sicherlich viel früher entdeckt worden, wäre die wissenschaftliche Welt nicht fest davon ausgegangen, daß es Überlichtgeschwindigkeit nicht geben kann. Der Kreiskolbenmotor von Wankel ist ein anderes Beispiel für den Zusammenhang zwischen den Überzeugungen und dem tatsächlich Möglichen. Menschliche Katastrophen wiederum können eine Technik um Jahre zurückwerfen w.z.B den Zeppelin nach dem Unfall von Lakehurst.

Der Schein braucht das Gefühl um einen Betrug aufrecht erhalten zu können. Ein Mensch, der das Gefühl für den Aufbau eines schönen Scheins für seine Zwecke hervorragend mißbrauchte, war Adolf Hitler. Menschen, die damals dem Sein verbunden waren, wie zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, mißtrauten zurecht den Nazis.

Das Sein braucht das Gefühl nicht, denn es ist bereits mit dem Gefühl verbunden. Wenn ein Mensch nicht nur existent ist, sondern tatsächlich ist, dann ist dieses Sein zwangsläufig mit Gefühl verbunden. ³ Der Schein braucht das Gefühl um eben dieses Sein vorzutäuschen.

Der Schein ist in seinem Wesen ein Gegensatz zum Sein. Der Schein ist eine Lüge. Das Sein ist eine Wirklichkeit. Trotz dieser Gegensätzlichkeit in ihrem zugrunde liegendem Wesen ist ihr Wesen oberflächlich betrachtet scheinbar ident. Wäre dies nicht der Fall würde dem Schein der Betrug auch nicht gelingen und einen so schamlosen Sieg über die Wahrheit davontragen. Vielleicht kann ich Sein und Schein nur dann unterscheiden, wenn ich mir vor Augen halte, daß die Wahrheit meistens schlichter auftaucht. Es ist eine Entscheidung zwischen wahrem Sein und trügerischem Schein zu fällen, wenn ich Wahrheit und Wesen erkennen will.

Die Freundlichkeit und ihr Wesen, die Diskussion und ihr Wesen, die Unterhaltung und ihr Wesen, die Politik und ihr Wesen, die Gesellschaft und ihr Wesen, das Verstehen und ihr Wesen und so fort sind, wohingegen ihr alleiniges Aufscheinen noch kein Beweis für ihre tatsächliche Existens ist. Nennen wir das Aufscheinen ein Phänomen. Das Phänomen deutet nur auf die Möglichkeit der Existenz eines Wesen der Freundlichkeit oder Diskussion und so fort hin. Ob es denn vorhanden ist, hängt vom Geist ab, der dahintersteht.

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