Die Architektur des Abgrunds

Die Architektur des Abgrunds: Warum „Nazi“ auch ein Spiegel ist


Es fühlt sich verdammt gut an, auf der richtigen Seite zu stehen. Wenn wir den Satz „AfD-Wähler sind Nazis“ aussprechen, passiert etwas Beruhigendes in unserem Gehirn. Wir ziehen eine Linie im Sand. Auf der einen Seite: Die Monster, die Ewiggestrigen, das Böse. Auf der anderen Seite: Wir. Die Aufgeklärten. Die Guten.[1]

Dieser Satz ist ein Schutzschild. Er bewahrt uns vor der unbequemsten Wahrheit unserer Existenz: Faschismus ist kein außerirdisches Virus, das zufällig ein paar Millionen Menschen befallen hat. Er ist eine menschliche Möglichkeit.[2]

Der Schock im Spiegel

Sagen wir es radikal: Menschen sind Nazis. Damit meine ich nicht, dass jeder ein Parteibuch im Schrank hat oder Holocaust-Mahnmahle schänden will. Ich meine, dass der „Stoff“, aus dem der Nationalsozialismus gewebt wurde, in der menschlichen Standard-Ausrüstung enthalten ist.[2]

Die Wissenschaft nennt das Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF). Klingt sperrig, meint aber etwas sehr Intimes: Es ist der hässliche Reflex, den eigenen Wert dadurch zu steigern, dass man andere abwertet. Ob es der herablassende Blick auf den Obdachlosen ist, das Misstrauen gegenüber dem fremden Akzent an der Kasse oder die hämische Freude über das Scheitern „der anderen“ – die Bausteine sind da.[3][1]

Wilhelm Heitmeyer hat gezeigt, dass dieses Syndrom quer durch alle Schichten verläuft. Niemand ist immun.[4][2]

Das Erbe der Angst

Warum ist das so? Weil wir biologisch auf „Wir gegen Die“ programmiert sind. Evolutionär war es überlebenswichtig, dem Fremden zu misstrauen und das Vertraute zu schützen. Unsere Vorfahren überlebten, weil sie ihre Gruppe zusammenhielten – oft durch Abgrenzung nach außen.[2]

Das Problem ist: Wir leben nicht mehr in der Steinzeit, aber wir tragen ihre Software. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) weist darauf hin, dass Rechtsextremismus keine „plötzliche Krankheit“ ist. Er ist die Radikalisierung von Einstellungen, die in der Mitte der Gesellschaft längst da sind.[5][6]

Er nimmt unsere ganz normalen Ängste – vor Kontrollverlust, vor dem Unbekannten, vor dem Abstieg – und gießt sie in eine giftige politische Form.[5]

Wir sind keine Heiligen

Studien der Bertelsmann Stiftung und die regelmäßigen „Mitte-Studien“ halten uns den Spiegel vor: Vorurteile gegen Muslime, LGBTQ+ oder Geflüchtete sind keine Randphänomene. Sie sind statistischer Alltag.[7][8]

Wenn wir ehrlich sind, finden wir diesen „kleinen Nazi“ in uns selbst:

  • In dem Moment, in dem wir uns überlegen fühlen, weil wir „gebildeter“ sind.[3]
  • In dem Moment, in dem wir eine ganze Gruppe für das Verhalten eines Einzelnen verantwortlich machen.[2]
  • In der Bequemlichkeit, mit der wir wegschauen, solange es nur die anderen trifft.[5]

Der Unterschied zwischen einem demokratischen Bürger und einem Faschisten ist oft nicht das Fehlen dieser Impulse – sondern der Umgang mit ihnen.[1]

Die Grenze: Wo aus Angst Politik wird

Hier liegt die eigentliche Verantwortung. Wir alle haben Abgründe. Aber wir haben die Wahl, welche wir füttern.[6]

Die AfD und ähnliche Strömungen tun etwas Teuflisches: Sie sagen den Menschen nicht „Arbeite an deiner Angst“, sondern „Deine Angst ist dein Recht, und dein Hass ist dein Widerstand“. Sie nehmen die menschliche Disposition zur Abgrenzung und machen daraus ein politisches Programm.[8][7]

Wer eine solche Partei wählt, übertritt eine Linie. Es ist der Moment, in dem aus einem menschlichen Reflex eine gesellschaftliche Gefahr wird. Man entscheidet sich aktiv dafür, die eigene dunkle Seite zum Maßstab für das Leben anderer zu machen.[9]

Wachsamkeit statt Selbstgerechtigkeit

Wirklicher Antifaschismus beginnt nicht mit einer lauten Demo (obwohl die wichtig ist). Er beginnt mit der radikalen Einsicht, dass wir alle anfällig sind.[5]

Wenn wir Faschismus nur als ein Monster betrachten, das „da draußen“ bei den anderen lebt, werden wir blind für sein Gift in unseren eigenen Gesprächen, unseren eigenen Vorurteilen und unserer eigenen Trägheit.[3]

Wir müssen aufhören, uns mit der „Anderen-Keule“ selbst zu belügen. Wir müssen den Abgrund in uns erkennen, um ihn jeden Tag aufs Neue zuschütten zu können. Nur wer weiß, dass er fallen kann, geht vorsichtig genug.[6]

Quellen & Tiefgang

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF):

  • Wilhelm Heitmeyer, Langzeitstudien (2002–2012), Bielefelder Institut: Wikipedia[1][3][2]
  • BPB-Analysen zur Primärprävention und „Mitte der Gesellschaft“: bpb.de[6][5]

Bertelsmann Stiftung:

  • „Einwurf 1/2021“ & Umfragen: 29% AfD-Wähler manifest rechtsextrem, 56% latent/manifest; Fremdenfeindlichkeit bei 65%[7][9][8]


  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Heitmeyer
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppenbezogene_Menschenfeindlichkeit
  3. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500781/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/
  4. https://www.soziothek.ch/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit-in-der-schweiz
  5. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/infopool-rechtsextremismus/542889/primaerpraevention-im-kontext-rechtsextremismus/
  6. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/552904/ursachen-und-praevention-des-rechtsextremismus/
  7. https://www.stadtkultur-hh.de/2021/03/bertelsmann-studie-rechtsextreme-einstellungen-vor-der-bundestagswahl-2021/
  8. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/monitoring-der-demokratie/projektnachrichten/rechtsextreme-einstellungen-der-waehlerinnen-vor-der-bundestagswahl-2021
  9. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-29-prozent-der-afd-waehler-sind-rechtsextrem-eingestellt-laut-bertelsmann-studie-a-79d3b168-35bb-475c-9b7b-22f76649b621
  10. https://www.demokratie-leben.de/resource/blob/252420/48ff027045c0a42535e7080b684fe425/fp2-modellprojekte-extremismuspraevention-schwerpunktbericht-1-data.pdf

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