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Leitkultur

Bassam Tibi hat 1998 einen Begriff in die Welt gesetzt. Die Diskussion flammt regelmäßig wieder auf. 2017 meinte Armin Nassehi  in der Zeit schon alles dazu im Jahr 2000 gesagt zu haben. „Es ist immer noch die Subordinationszumutung unter ein Allgemeines, das Hegel zum Schutzheiligen der deutschen Leitkulturdebatte macht. Wer das kritisiert, ist schon wieder mitten im Spiel um die Leitkultur. Wir müssen also immer wieder von vorn beginnen: Es ist schon so viel geschrieben und gesagt worden …“ Armin Nassehi ebenda.

Das Fazit von Bassam Tibi am 29.5.2017 ist allerdings: „Eine Nation mit einer beschädigten Identität ist unfähig, eine Strategie gegen die Anti-Leitkultur-Propaganda der Islamisten und Links-Grünen zu bieten. Auftritte, wie der von de Maizière auf dem Podium der «Initiative kulturelle Integration» am Brandenburger Tor in Berlin am 16. Mai, mögen gut für das Fernsehen sein, aber sie tragen weder zur Integration der Muslime noch zu einer europäischen Leitkultur bei, die die Islamisierung Europas abwehrt. Wer keine europäische Identität und europäische Leitkultur will, bekommt stattdessen eine islamische Leitkultur für Europa.“

Das Wort Leitkultur ist zum Leid geworden, weil es missbraucht und geschändet wurde. Das ist typisch deutsch, das gehört tatsächlich zu unserer Kultur, da die Nazis die deutsche Sprache so missbraucht und geschändet haben, dass das Wort Führer nicht mehr harmlos ist und zum Anführer oder Geschäftsführer werden muss. Der Wunsch nach einer deutschen Identität oder gar einer europäischen Identität von Bassam Tibi ist verständlich. Was er übersieht, sie ist vorhanden, aber sie ist verzerrt und eben nicht so klar ausdrückbar, weil das unfassbare Grauen im Hintergrund der Sprache immer mitwirkt. Wählt der Deutsche seine Wort nicht bedacht, dann hat er schnell eine Führerkultur selbst wenn er gar eine Führungskultur oder gar eine Leitungskultur vielleicht sogar eine Leitkultur meint.

Es ist ein verwobener Teil der deutschen Identität diesen Sprachverlust erdulden zu müssen und es ist nicht verwunderlich, dass Akif Pirincci der Schriftsteller ist, der das ignoriert, da er zwar die deutsche Sprache liebt, aber diese sprachliche Verwirrung und die Sensibilität mit der durch die Nazis zerstörte Sprache nicht teilt. So ist im Reich der Nibelungen kein Problem, aber wehe wir verwenden es als Reich der Deutschen. Wir können Bürger sein, aber um Himmels Willen keine Reichsbürger. Es kann die Managerkultur sein, aber eben niemals die Führerkultur. Wahrscheinlich sind es diese unausgesprochenen Regeln der deutschen Umgangssprache, die irgendwelche rechten Spinner von Zensur reden lassen. Derweil ist es die verinnerlichte Verantwortung, der nach dem Krieg geborenen Deutschen, welche sich der deutschen Schuld bewusst sind und selbst wenn sie sich dieser Schuld nicht bewusst sind, sie mit dieser neuen Sprache aufwachsen, die nicht mehr vollkommen echt ist, sondern problematische Begriffe, die die Nazis missbraucht haben und von den Nazis besetzt worden sind, umgeht.

Es gibt eine Identität, es gibt eine nationale Identität hinter der sich die Deutschen versammeln könnten. In der alten BRD hatten die Deutschen das auch getan. Der zuvörderste und allererste Leitsatz dieser deutschen Identität ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Die deutsche Identität begann als staatsrechtliches Provisorium am ersten Juli 1948. Es ist eine Identität der Bürgerrechte und der Staatspflichten. Der Staat hat dabei die Pflicht sich an der Würde des Menschen nicht nur zu orientieren, der Staat ist das dienende Wesen, welches die Bürgerrechte zu wahren hat. Nach der Wiedervereinigung und auch schon davor hat der Staat diese Leitkultur vergessen. Angesichts der katastrophalen deutschen Vergangenheit, als die Nazis alles und jedes in die Pflicht genommen hatten wie dass die Mutter die Pflicht hatte anständige Deutsche zu gebären und zu erziehen oder jeder anständige Deutsche die Pflicht für den Führer in den Krieg zu ziehen, waren die Rechte nun im Vordergrund. Und sollte das für die Zukunft nicht genügen, wurde die Würde des Menschen im Gegensatz zur Menschenrechtskonvention ganz nach oben gestellt. Das einzelne Individuum wurde zum König erhoben über den Tod hinaus, es sollte nicht mehr vorkommen dürfen, dass die Toten würdelos als Aschebahn oder Lampenschirme missbraucht werden können. Die Würde des Einzelnen ist Bedingung und Gesetz staatlichen Handelns. Daß diese Würde nach der deutschen Einheit verletzt worden ist und verletzt wird, tut dieser Identität keinen Abbruch. Das ist nämlich die einzig wirklich denkbare deutsche Identität, wenn der Begriff Verantwortung vor der Vergangenheit ernst genommen werden soll.

Wer sich zu dieser Identität der Menschenwürde nicht bekennen will, ist letztlich kein Deutscher im Sinne des Grundgesetzes, er hat nur einen deutschen Pass. Wer das akzeptieren kann mit all den Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben, weil ein Gemeinwesen halt eben nicht nur aus einzelnen würdevollen Menschen bestehen kann, sondern sich eben doch auch gemeinschaftlich organisieren muss, der ist Deutscher.

In diesem Sinne ist de Maiziere eigentlich kein Deutscher, weil er nicht die Würde des Einzelnen in den Vordergrund stellt, sondern die Pflichten sich nach seinen Ansichten richtig zu verhalten. Regierungsanbeter gibt es aber in diesem ursprünglichen Grundgesetz nicht mehr und auch die Pflicht sich einer Gemeinschaft unterzuordnen nicht. Die Gemeinschaft bildet sich aus den gleichberechtigten würdevollen Menschen, die untereinander verhandeln, was die Pflichten des Staates sind. Der Staat hat sich dieser Würde eben unterzuordnen und muss akzeptieren, was der einzelne in seiner Würde ist.

Da die DDR dieses Prinzip gar nicht kannte und ich befürchte, dass dieses Prinzip Frau Merkel gar nicht bewusst ist, weil sie von der unteilbaren Menschenwürde spricht statt der unantastbaren, ist diese Leitkultur verloren gegangen.