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Sind wir alle nicht Herr W.?

Gil Ofarim sprach auf Instagram seinen letzten Satz nicht zu Ende. Aber es war klar, dass er sagen wollte, dass dies Deutschland im Jahr 2021 ist. Das Westin Hotel in Leipzig den Eingangsbereich im Hintergrund, schilderte er was ihm wiederfahren war. Ich habe keine Zweifel seinen Worten zu glauben.

Doch was war eigentlich geschehen? Wir begeben uns also in ein Hotel, dessen Computer ausgefallen ist und vielleicht haben wir ja auch die Empathie uns in die Lage des Menschen zu versetzen und vielleicht auch noch die Fähigkeit die gesamte soziale Situation zu verstehen und zu beleuchten. Selbst wenn keiner von uns vor Ort war, mag das gar nicht so schwierig sein. Viele werden möglicherweise schon eine Ticketstörung am Flugscheinschalter erlebt haben oder vielleicht auch eine Menschenschlange am Bahnschalter. Wie dem auch sei, es in unserem Falle eine Menschenschlange aufgrund technischer Probleme beim Checkin in das Hotel.

So ganz ungewöhnlich ist die Situation auch wieder nicht. Wer kennt das nicht, dass auch in der Kassenschlange am Supermarkt, einer plötzlich meint in der falschen Schlange gestanden zu haben. Irgendjemand drängelt sich vielleicht vor und irgendjemand anderes macht eine Bemerkung dazu als „Hey, Sie bitte hinten anstellen.“ Es heisst nur die Briten können sich ordentlich anstellen, es sei denn das Benzin wird knapp.

Auch aus diesem Grund halte ich die Schilderung von Gil Ofarim für vollkommen glaubwürdig. Da er ein reisender Künstler ist, der durch ganz Deutschland tourt sind ihm solche Situation möglicherweise nicht fremd. Und er macht der Situation an sich keinen Vorwurf. Nein im Gegenteil sagt er, dass das ja mal vorkommen kann. Vielleicht hat er ja auch mal bei einem seiner Konzerte erlebt, dass eine Kasse ausgefallen ist und es Trouble am Einlass gab. Es ist vollkommen glaubhaft, dass das an sich für ihn kein Problem darstellt.

Es ist nur eine reine Vermutung, aber ich gehe davon aus, dass er das Entzerren der Schlange zwar als Zurücksetzung wahrgenommen hätte, aber deswegen wahrscheinlich nicht auf Instagram gegangen wäre. Er hätte diese soziale Zurückweisung ohne Grund möglicherweise einfach hingenommen. Aber ich kenne ihn nicht und weiß natürlich nicht wie er diesbezüglich verfasst ist, das ist nur mein persönlicher Eindruck. Ich traue ihm aber das Selbstbewusstsein zu, sowas einfach hinzunehmen. Aber es lädt die Situation als solches selbstverständlich auf.

Herr W. auch Ihn kennen wir nicht, ist nun am Checkin des Hotels. Für Ihn ist die Situation als solches ebenso stressbelastet. Es macht keinen Spaß mit verärgerten Kunden zu tun zu haben, wenn die Technik streikt. Selbst wenn du nichts dafür kannst, bekommst du am Counter den Stress der Kunden ab. Da kann es dir schon mal passieren, dass ein Kunde dich begrüßt mit „Was ist denn das für ein Sauladen hier?“ und du es freundlich wegsteckst. Servicemitarbeiter sind hier teilweise aber auch erfahren und reagieren auf die Masse. Es ist in gewisser Hinsicht die Masse, die in solchen Situationen bestimmt. Trotz der aussergewöhnlichen Situation versucht ein solcher Mitarbeiter in der Regel ausgleichend zu wirken und das Geschehen deeskalierend in den Griff zu bekommen. Die Fakten des Computerausfalls lassen sich nunmal nicht ändern. Der größte Fehler des Herrn W. dürfte sein, dass er nicht die Zivilcourage hatte dem Antisemitismus der Masse entgegenzutreten. Und hier komme ich zu dem Punkt, sind wir nicht alle ein bisschen Herr W.?

Denn aus der Schilderung von Gil Ofarim lese ich dieses Aufschaukeln heraus. Und das wahrlich schlimme an der Situation ist nicht nur die Reaktion von Herrn W., sondern das gesamte Verhalten aller Menschen, die im Foyer daran beteiligt waren. „Pack deinen Stern ein.“ ist dann nur noch die Spitze einer im Grunde antisemitischen Masse. Es ist dabei schwierig zu beurteilen, ob die Servicekraft wirklich ein Antisemit ist, aber er ist in diesem Moment mindestens Mitläufer einer antisemitischen Masse. Seine Deeskalationsstrategie, dass Gil Ofarim seinen Stern einpacken sollte, ist nicht nur falsch. Es ist verletztend.

Und genau das lässt Gil Ofarim fassungslos zurück. Der Manager am Counter wäre die letzte Instanz gewesen, die sich schützend vor ihn hätte stellen können und genau das geschah nicht. Nun stellt sich aber die Frage, tun wir das im Alltag oder sind wir nicht eher diejenigen, die dann andere Menschen verletzen. Ich muss nicht dabei gewesen sein, um zu wissen, dass alle Mitarbeiter und alle Gäste die zu dem Zeitpunkt anwesend waren sich mindestens als Mitläufer antisemitisch verhalten haben. Das ist das wahrlich Erschreckende daran.

Ich mache es mir hier in München leicht. Ich lebe in einem sozialen Verbund, wo „München ist bunt“ die staatstragende Räson ist. In Sachsen sieht das soziologische Gefüge aber anders aus. Das ist leicht zu erkennen an den 16 Direktmandaten, die die AfD am 26.9.2021 errungen hat. Die Mehrheit dort ist abgedriftet und entsprechend schwieriger ist es dort sich dem entgegenzustellen. Es ist leicht aus der Ferne zu sagen, Herr W. hätte dies und das tun müssen, wenn die Mehrheit gegen einen steht. Aber auch das war das Problem im dritten Reich. Viele verhielten sich dann als Mitläufer und waren nicht mutig genug gegen eine antisemitische Masse aufzustehen.

Lasst uns also nicht sein wie Herr W. und sich der antisemitischen Masse anschliessen. Tretet ein wann immer ihr könnt gegen Diskriminierung und Ausgrenzung egal wem gegenüber. Es sollte uns eine Ehre sein für andere Menschen einzutreten.