Über 135 Jahre Deutsche Rentenversicherung – Umlageverfahren vs. Kapitaldeckung

Von Bismarck bis zum SGB VI: Die wahre Geschichte der Rente

Wenn es um die deutsche gesetzliche Rentenversicherung (GRV) geht, hört man oft, sie sei in den 1950er-Jahren entstanden. Das ist falsch. Die GRV wurde nicht in der Nachkriegszeit geschaffen, sondern geht auf das „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ vom 22. Juni 1889 zurück, das unter Reichskanzler Otto von Bismarck in Kraft trat.

Damals, im ausgehenden 19. Jahrhundert, legte der Staat den Grundstein für die heute größte Säule der sozialen Sicherung. Die vermeintliche „Geburtsstunde“ in den 1950er-Jahren war in Wahrheit die bahnbrechende Rentenreform von 1957, welche die Dynamisierung der Renten (Kopplung an die Lohnentwicklung) und das heutige Hauptfinanzierungsprinzip einführte: das Umlageverfahren.

Doch was genau bedeutet dieses Prinzip, und wie unterscheidet es sich von einer kapitalgedeckten Rente?


Die zwei Welten der Rentenfinanzierung

Der fundamentale Unterschied in der Rentenfinanzierung lässt sich auf die Frage reduzieren: Wer oder was erwirtschaftet das Geld, das ich im Alter ausgezahlt bekomme?

1. Das Kapitaldeckungsverfahren – Die Kapitalrendite

Das Kapitaldeckungsverfahren ist das Prinzip, das bei privaten Versicherungen, wie beispielsweise der Riester-Rente oder Betriebsrenten, zum Tragen kommt.

  • Jeder spart für sich selbst.
  • Ihre Beiträge werden gesammelt und über Jahrzehnte am Kapitalmarkt (Aktien, Anleihen, Immobilien etc.) investiert.
  • Ihre Rente im Alter wird aus den angesparten Beiträgen plus den erzielten Kapitalrenditen finanziert.

Das Risiko im Beispiel:

Ihre Rente wird über die Mieteinnahmen eines Zinshauses finanziert. Wenn das Haus abbrennt oder der Immobilienmarkt einbricht, fallen die Einnahmen weg, und das angesparte Kapital ist in Gefahr. Die Rente ist direkt dem Kapitalmarktrisiko ausgesetzt.

2. Das Umlageverfahren (Pay-as-you-go) – Die gesamte gegenwärtige Wirtschaftsleistung

Das deutsche Rentensystem basiert auf dem Umlageverfahren (Pay-as-you-go). Dieses System beruht auf einem Generationenvertrag:

  • Die heute arbeitende Generation (die „Einzahler“) finanziert direkt die Renten der aktuellen Rentner (die „Leistungsempfänger“).
  • Die Rente hängt nicht vom Wert eines physischen Vermögens ab, sondern von der aktuellen Produktivität der Volkswirtschaft.

Bisher wurde die Finanzierung fast ausschließlich über die Lohnbeiträge der Arbeitnehmer bestritten. Dies führt zu der ständigen Angst vor dem Demografie-Risiko (zu wenig Junge müssen zu viele Alte finanzieren).

Die erweiterte Perspektive: Die gesamte Wirtschaftsleistung nutzen

Die gegenwärtige Wirtschaftsleistung besteht nicht nur aus Arbeitseinkommen. Sie umfasst die gesamte Wertschöpfung einer Nation, also auch:

  • Einnahmen aus Unternehmensgewinnen.
  • Erträge aus Kapitalanlagen.
  • Erlöse aus Verbrauchssteuern.

Einige europäische Länder nutzen diese breitere Basis bereits:

🇨🇭 Das Beispiel Schweiz:

In der Schweiz wird die 1. Säule (AHV – die obligatorische Altersversicherung) nicht nur durch Lohnbeiträge finanziert, sondern auch durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuer und aus Teilen der Einkünfte aus Glücksspielen und Tabaksteuern. Hier finanzieren also auch Konsum und Kapitalerträge direkt die Renten.

Dieses Modell zeigt: Eine zukünftige Reform der deutschen Rentenversicherung könnte das Umlageverfahren stabilisieren, indem es auf eine breitere Finanzierungsbasis gestellt wird. Anstatt die gesamte Last auf die Löhne zu legen, könnte ein Teil der Finanzierung über andere Elemente der gegenwärtigen Wirtschaftsleistung (z. B. eine „demografiefeste“ Steuer) erfolgen.

Das Risiko im Beispiel:

Hier hängt die Rente nicht vom Zustand eines einzelnen Hauses ab, sondern von der gesamten nationalen Wirtschaftskraft. Solange der Bauarbeiter produktiv ist und Steuern zahlt, und solange Konsum und Handel stattfinden, ist die Rente finanziert. Das System ist robuster gegenüber den Schwankungen einzelner Kapitalmärkte, aber anfällig für tiefgreifende Wirtschaftskrisen oder eine starke demografische Schieflage.


Kurz-Vergleich: Welches System ist widerstandsfähiger?

SystemFinanzierung hängt ab von…Hauptrisiko
Umlageverfahren (DE, aktuell)Der Lohnsumme der Beitragszahler.Demografie-Risiko (zu wenig Junge müssen zu viele Alte finanzieren).
Umlageverfahren (Zukunft)Der gesamten nationalen Wertschöpfung (Löhne + Gewinne + Steuern).Wirtschaftskrisen (Einbruch der gesamten Produktivität).
Kapitaldeckung (Privatvorsorge)Der Wertentwicklung des investierten Kapitals (Aktien, Immobilien etc.).Kapitalmarktrisiko (Einbruch der Märkte, Wertverlust des Kapitals).

Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland ist ein historisch gewachsenes System, dessen Stabilität durch eine Verbreiterung der Einnahmebasis auf die gesamte Wirtschaftsleistung (nach Schweizer Vorbild) gesichert werden könnte.

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