In letzter Zeit taucht immer wieder die Frage auf, wer sich hinter den Figuren meiner „100 Kieselsteinchen“ verbirgt. Es gibt Irritationen, vielleicht auch Verletzungen, weil sich Menschen in einer Erzählung wiederfinden und sagen: „So war das nicht“ oder „Das bin ich, aber das Bild ist falsch.“
Es ist Zeit, ein Missverständnis zu klären, das so alt ist wie das Schreiben selbst: die Verwechslung von Porträt und Prisma.
Die Verdichtung der Wirklichkeit
Wenn ich schreibe, bin ich kein Chronist. Ich führe kein Protokoll über das Leben meiner Verwandten, Freunde oder Feinde. Literatur funktioniert durch Verdichtung.
In einer einzigen literarischen Figur fließen oft die Charakterzüge von drei verschiedenen Menschen zusammen. Eine Geste, die ich vor zehn Jahren bei einem Fremden im Zug sah, kombiniert sich mit einem Satz, den jemand am Küchentisch sagte, und dem Gefühl, das ich selbst in einer ganz anderen Situation hatte.
Wer sich in einem „Kieselsteinchen“ wiederkennt, sieht vielleicht ein vertrautes Fragment – aber dieses Fragment ist nun Teil eines neuen Ganzen. Es ist eine literarische Figur, kein Abbild einer realen Person.
Wahrheit vs. Wahrhaftigkeit
Es gibt einen Unterschied zwischen faktischer Wahrheit (Was ist wann passiert?) und emotionaler Wahrhaftigkeit (Wie hat es sich angefühlt?). Die „100 Kieselsteinchen“ suchen nach der Wahrhaftigkeit.
Dafür muss die Realität manchmal weichen. Ich kürze Abzweigungen ab, erfinde Übergänge und schmelze reale Personen zu Archetypen zusammen. Nicht, um jemanden bloßzustellen, sondern um eine Geschichte erzählbar zu machen.
Das Echo im Leser
Ein Text ist immer eine Zusammenarbeit zwischen Autor und Leser. Wenn ein Leser sich in einem Motiv erkennt, ist das zunächst ein Zeichen von Resonanz. Doch diese Resonanz ist subjektiv.
Ein Porträt will sagen: „So bist du.“
Ein Kieselsteinchen sagt: „So könnte es sich angefühlt haben.“
Meine Texte sind Einladungen zur Reflexion, keine Zeugenaussagen. Sie sind Perspektiven auf das Menschsein – geprägt von meiner eigenen, unvollkommenen Erinnerung und der Freiheit der Fiktion.
