Radikal im Guten – Über Humanität als konservative Aufgabe

Es gibt Momente, in denen politische Kategorien an ihre Grenzen stoßen. Nicht, weil sie bedeutungslos geworden wären, sondern weil sie das, worum es eigentlich geht, verdecken. „Links“ und „rechts“ sind solche Kategorien. Sie sortieren, sie trennen, sie erzeugen Lager – und sie verschieben unsere Aufmerksamkeit weg von der Frage, die jeder Mensch sich irgendwann stellen muss: Was ist das Gute?

In einer Zeit, in der Begriffe wie „konservativ“ und „radikal“ zu Kampfmarken verengt wurden, lohnt es sich, sie philosophisch zurückzuerobern. Denn wenn konservativ im ursprünglichen Sinn „bewahrend“ bedeutet, dann steht dieses Bewahren im Zentrum all jener Traditionen, die die Aufklärung Europas geprägt haben: das Bewahren der Menschenwürde, das Bewahren der Freiheit, das Bewahren dessen, was Kant den „inneren Wert“ des Menschen nannte – jenes „Zweck-an-sich-selbst“, das in keinem politischen Spiel, in keinem ideologischen Projekt aufgeht.

Vielleicht müssen wir heute den Mut haben, radikal konservativ in der Humanität zu sein. Radikal, weil das Gute nicht weich ist. Weil das Mitmenschliche nicht harmlos ist. Weil Würde nicht verhandelbar ist.

Die Radikalität des Guten

Kant wusste, dass das Gute nicht im Gehorsam gegenüber Autoritäten entsteht, sondern in der Freiheit des Denkens. In jenem „Sapere aude!“, das er zum Motto der Aufklärung machte. Mut zum eigenen Verstand. Mut, sich nicht leiten zu lassen von tribalistischen Reflexen, nicht von Parolen, nicht von dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Hannah Arendt wiederum hat uns gelehrt, dass das Böse oft gerade dort beginnt, wo Menschen aufhören, zu denken. Wo sie Funktionsträger werden. Wo sie sich einrichten in der Rolle, die ihnen die Masse, die Partei oder der Führungsapparat zuweist. Das Böse ist banal, sagte sie – nicht, weil es trivial wäre, sondern weil es gedankenlos ist.

Das Gute hingegen ist niemals banal. Es ist anstrengend. Es verlangt Unterscheidung, Urteilskraft, Selbstkritik. Es ist – und das macht seine Radikalität aus – beziehungsorientiert: immer auf den Anderen gerichtet, auf sein Leiden, auf seine Verletzlichkeit, auf seine Endlichkeit.

Diese Radikalität des Guten ist das Gegenteil dessen, was heute oft als „rechtsradikal“ erscheint – jene Ideologie, die Menschen entwertet, trennt, hierarchisiert. Und sie ist das Gegenteil jenes autoritären Linkspaternalismus, der glaubt, den Menschen vorschreiben zu müssen, wer sie zu sein haben. Beide Seiten misstrauen der Freiheit. Beide reduzieren den Menschen auf eine Rolle.

Humanität als Kern Europas

Die europäische Aufklärung war nie eine perfekte, aber sie war ein radikaler Versuch, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen – nicht die Nation, nicht die Klasse, nicht die Rasse, nicht die Religion. Das ist ihr revolutionärer Kern.

Und vielleicht ist genau dies heute das Bewahrenswerte:
der Gedanke, dass jeder Mensch, unabhängig von Herkunft, Vermögen, Pass oder Weltanschauung, Träger von Würde ist.

Dass die Menschenrechte nicht zufällig entstanden sind, sondern Ausdruck einer langen geistigen Entwicklung, die von der stoischen Philosophie über die christliche Ethik bis zu Kant und den Revolutionen des 18. Jahrhunderts reicht.

Dass Arendts Idee der Pluralität – die Einsicht, dass Menschen verschieden sind und genau darin ihre politische Würde liegt – nicht ein naiver Idealismus ist, sondern ein Gegenentwurf zu jeder Form von Totalitarismus.

Wenn wir dies bewahren wollen, dann müssen wir es radikal bewahren. Nicht verwässert, nicht taktisch, nicht müde. Eben nicht „politisch“, sondern zutiefst menschlich.

Das Gute gegen das Ideologische

Vielleicht ist das die eigentliche Provokation: sich der alten politischen Ordnung zu entziehen und stattdessen das Gute selbst zum Maßstab zu nehmen. Nicht das linke Gute und nicht das rechte Gute, nicht das nationale oder das ökonomische, sondern das Gute, das sich am Menschen orientiert.

Ein Gutes, das sich zeigt, wo Menschen einander ansehen – wirklich ansehen.
Ein Gutes, das sich im Zweifel für die Verletzlichen entscheidet.
Ein Gutes, das Autoritarismus ablehnt, gleichgültig, ob er mit Hammer und Sichel auftritt oder mit Adler und Stahlhelm.

Es ist das Gute, das Emcke in ihren Reden beschwört, wenn sie von Mitgefühl, Verantwortung und Wahrheit spricht; das Gute, das Arendt in der Urteilskraft verortet; das Gute, das Kant als moralisches Gesetz in uns dachte.

Dieses Gute ist radikal. Und es verlangt Haltung.

Ein Plädoyer für das radikal Menschliche

Ich befinde mich nicht zwischen links und rechts, sondern jenseits der Achse, auf der diese Begriffe sich bewegen. Nicht neutral, nicht indifferent, sondern fest verankert in der Überzeugung, dass das Menschliche bewahrt werden muss – gegen autoritäre Systeme, gegen Entmenschlichung, gegen Gleichgültigkeit.

Vielleicht könnte man sagen:

Ich bin radikal im Guten.
Konservativ im Bewahren der Menschenwürde.
Und widerständig gegen alles, was den Menschen reduziert.

Wenn das heute missverstanden wird, dann ist es vielleicht an der Zeit, die Begriffe neu zu füllen – nicht mit Ideologie, sondern mit Humanität.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert