Der Zweite Große Zerfall: Warum „Nach Putin“ nur „Vor dem nächsten Zaren“ war

Moskau / Kasan, November 2029 – Die Übergangsphase nach dem plötzlichen Machtvakuum in Moskau ist gescheitert. Der Zerfall Russlands erfolgt nicht entlang ethnischer Linien, sondern entlang der historischen, klientelistischen Machtstrukturen, die der Westen konsequent ignoriert hatte.

Nach dem Kollaps der Zentralgewalt durch eine gescheiterte Prätorianer-Revolte im Sommer sah der Westen seine Chance: Man setzte auf regionale Autonomie und unterstützte „progressive“ Gouverneure, in der Hoffnung, stabile Demokratien von unten aufzubauen.

Das Ergebnis war ein Albtraum:

  • Der Aufstieg der Fürsten: Die ehemaligen Gouverneure und regionale Oligarchen-Clans (die „Reformführer“ der 90er) griffen sofort zu den maroden, aber vorhandenen Sicherheitsapparaten und schufen mafiöse Mini-Staaten. Statt Rechtsstaatlichkeit entstand bewaffneter Klientelismus. Regionen mit Rohstoff-Exporten (Ural, Sibirien) erklärten sich faktisch für autonom, nicht um Demokratie zu schaffen, sondern um die Einnahmen aus Rohstoffen für den lokalen Clan zu sichern.
  • Die Illusion der Institutionen: Die Staatsduma in Moskau existierte zwar noch, aber sie war bedeutungslos. Die Macht lag bei den Silowiki-Potentaten in den Regionen, die ihre persönliche Loyalität nur noch an Gold, Waffen und lokale Warlords banden – dem modernen Äquivalent mittelalterlicher Feudalherren.
  • Die Katastrophe der Hilfe: Die vom Westen versprochene „Stabilisierungshilfe“ zur Stärkung der Zivilgesellschaft landete fast vollständig in den Händen dieser neuen, lokalen Fürsten, die sie zur Finanzierung ihrer privaten Milizen und zur Kontrolle der lokalen Medien nutzten. Anstatt Fundamente für eine neue Ordnung zu legen, goss der Westen Benzin auf die flackernden Glutnester des Patrimonialismus.

Die Welt steht nicht vor einem geeinten, aber autoritären Russland, sondern vor einem atomar bewaffneten Flickenteppich aus Dutzenden „Kadyrow-Regimen“, die permanent um Territorien und Ressourcen kämpfen. Die Struktur des Zarenreiches hat sich unter dem Schleier der Moderne wieder reproduziert.


Für die Doofen

Diese Geschichte zeigt, warum Think-Tanks (die Theoretiker) sich oft irrten und die Slawisten und Anthropologen (die Kenner der Alltagsrealität) richtig lagen.

  1. Das Problem ist die DNA des Staates (Patrimonialismus): Die Analysten im Westen analysierten Russland als ein „halbkaputtes europäisches Land“ – mit formalen Institutionen, die man nur reparieren müsse. Sie sahen Autokratie als das Problem. Slawisten sahen die Patrimoniale Struktur als das Problem: ein System, in dem Macht persönlicher Besitz ist, nicht ein Amt, das durch Gesetze reguliert wird. Egal ob Zar, Generalsekretär oder Präsident: Die vertikale Machtstruktur und die Klientel-Netzwerke (die „Bojaren“ von heute) bleiben bestehen.
  2. Die Fehleinschätzung der 90er-Jahre: In den 1990ern dachte der Westen, Dezentralisierung würde Demokratie bringen. Sie übersahen, dass es in Russland keine bürgerlichen, kommunalen oder rechtsstaatlichen Fundamente gab, die die Macht im Vakuum hätten auffangen können. Stattdessen wurden die von Moskau gelösten Fesseln nur von den lokalen Clans angelegt.
  3. Die Lehre des Zerfalls: Der Zerfall großer Reiche ist selten friedlich, wenn das Fundament fehlt.
    • Zarenreich / Sowjetunion: Die Mitte (Moskau) verlor die Kontrolle, und die Peripherie zerfiel in Machtinseln, weil es keine funktionierenden Institutionen von unten gab (keine unabhängige Justiz, keine stabile Zivilgesellschaft). Das ist der Unterschied zu Polen oder der Tschechoslowakei, die tief verwurzelte bürgerliche und rechtsstaatliche Traditionen hatten, die sie nach dem Fall des Kommunismus reaktivieren konnten.
  4. Die Warnung „Nach Putin“ wird zu „Vor Putin“: Wer jetzt unkontrolliert „regionale Reformer“ unterstützt, der schafft keine Demokratien. Er schafft neue, bewaffnete Potentaten, die in den nächsten Jahrzehnten wieder einen neuen, noch brutaler zentralisierten Zaren nötig machen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Der Zerfall führt in diesem vormodernen System nicht zur Freiheit, sondern in das Mittelalter zurück.

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