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Die Getretenen – Seite 1

„Holt ihn da runter!“ Fünfzig Jahre später dachte ich mir: Der Lehrer hat alles falsch gemacht. Wenn du nun die Geschichte aufschreibst, dann verwende keinen Namen. Was sollen die Namen auch jemanden sagen?
Die Jungen kletterten auf den Baum und holten ihn runter. Ein vierzehnjähriger Junge, der unter den Heimeltern und dem Mobbing gelitten hatte. Nun war dieses Leben zu Ende. Was heißt hier nun? Es ist jetzt Ewigkeiten her. Dennoch es bleibt die Erinnerung. Die Gespräche mit einem Jungen sind so lebendig wie sein Tod. Es ist etwas hängen geblieben in diesem Leben.

Nicht jede Geschichte bleibt in der Erinnerung. Da ist der Vater, der den einjährigen Jungen getreten hat. Von diesen Tritten gibt es keine Erinnerung. Diese Tritte wurden von der Mutter erzählt, als die Eltern die Kinder auf die Scheidung vorbereiteten. „Wie kannst du nur für deinen Vater Stellung beziehen, da er dich doch als Einjähriger getretten hat?“ Ja, wie konnte ich nur.
Was mochte nur der Vierzehnjährige erlebt haben. Seine ältere Schwester lebte im gleichen Internat. Ich wusste bis zu seinem Tod noch nicht einmal, dass er eine Schwester hatte. Die Jungen lebten in den Jungenhäusern, die Mädchen in den Mädchenhäusern.
Er war aus Hamm nach Bayern gezogen. Anfang 20 und schwarzes Haar mit einem kleinen Oberlippenbart schlug er vor die Pfandkästen bei einem Supermarkt aus dem Hinterhof zu holen und am nächsten Tag, sich dafür das Pfand zu holen. Auch diese Geschichte ist ein halbes Leben her. Ich habe mich zu einem Kleinkriminellen machen lassen. Ich hätte ja nein sagen können, aber ich tat es nicht. Der Nordrheinwestfale brauchte mich, denn ich hatte den Lastwagen.
Ich kann mich hinstellen und schreiben, das ist alles erfunden. In gewisser Hinsicht ist es erfunden, weil jede Erinnerung falsch ist. Nie erinnert man sich an alles. So wie der Einjährige nichts von den Tritten seines Vaters wusste. Diese Tritte existieren in der Erinnerung nicht. Es existiert die Erzählung der Mutter achtzehn oder neunzehn Jahre später. Die Mutter hat mich nur einmal geschlagen nur ein einziges Mal. Die Hand ist ihr ausgerutscht. Danach tat ihr die Hand weh und meine Wange brannte. Aber ich lies mir nichts anmerken. Ich hatte den Schlag kommen sehen. Stur wie ich war, versteifte ich meinen Hals und die Wange war ein harter fester Widerstand geworden. Sie hatte mit voller Kraft ausgeholt. Jetzt tat ihr die Hand weh. Ein Kopf, der nicht ausweicht, hat ziemlich harte Knochen. Es war ihre eigene Kraft, die auf Widerstand stiess, und sie sich damit selbst verletzte. Danach schlug sie nie wieder zu.

Der Lehrer schickte mich zur Kreisstraße, damit ich den Rettungswagen, der die Leiche abholen sollte, einweisen konnte. Ich war selbst ehrenamtlich bei diesem Rettungsdienst und die Kollegen kannten mich. Der Lehrer wusste das. Jeder kannte irgendwie jeden im Internat. Alle waren ausgerückt, weil die Hauseltern, des Hauses in dem der vierzehnjährige mit ungefähr dreissig anderen Jungen lebte, Alarm geschlagen hatten. Das halbe Internat war auf den Beinen um den Jungen zu suchen.

Die Getretenen – Seite 2