Es gehört zu den Ironien unserer Gegenwart, dass ausgerechnet jene, die sich „konservativ“ nennen, oft am wenigsten bereit sind, das zu bewahren, was im eigentlichen Sinne unersetzlich ist: die Schöpfung, die Erde, die prekären Bedingungen unseres gemeinsamen Lebens.
Konservatismus ist, seinem Wort nach, der Versuch zu bewahren. Doch was wird bewahrt? Und wovor? Der moderne Missbrauch des Wortes verwechselt Bewahren mit Besitzstandswahrung. Es ist ein Konservatismus, der fossile Industrien schützt, aber nicht die Kinder, die in der Zukunft atmen müssen. Ein Konservatismus, der den Wald romantisiert, aber ihn rodet. Eine Perversion des Konservativen, die im Namen der „Normalität“ das Dringlichste ausblendet.
Ich möchte ein anderes Konservativsein erinnern. Eines, das die Schöpfung schützt – nicht aus Nostalgie, sondern aus Verantwortung.
I. Die Stille, die wir nicht mehr hören
Vielleicht beginnt jede Form von echtem Konservativsein mit einer Haltung, die Carolin Emcke „radikale Empfindlichkeit“ nennen würde: dem Vermögen, die Verletzlichkeit der Welt wahrzunehmen, bevor sie zerstört ist.
Es ist die Stille der Wälder vor dem Morgenwind. Es ist das langsame Atmen eines Moosteppichs. Es ist der Schatten eines Gletschers, der existiert, lange bevor wir ihn benennen.
Diese Stille ist kein Luxus. Sie ist eine Lebensform. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht Herren der Welt sind, sondern Teil von ihr. Ein echtes Konservativsein würde dort beginnen: in der Demut vor dem, was größer ist als unser persönlicher Nutzen. Dieses feine Gespür für das, was lebt und verwundbar ist, ist der Ursprung jeder ökologischen Verantwortung.
II. Die Zerstörung der Begriffe
Die Angriffe der Gegenwart zielen selten direkt auf die Wirklichkeit. Sie zielen zuerst auf die Begriffe, mit denen wir sie verstehen. Christian Stöcker hat es präzise beschrieben: Die Angriffe der Populisten zielen zuerst auf die Begriffe.
Worte wie „Klimahysterie“, „Ökodiktatur“ oder „grüner Terror“ erfüllen eine Funktion: Sie sollen verhindern, dass Menschen überhaupt begreifen, was geschieht. Es ist eine gezielte semantische Verwüstung. Eine Zerstörung der Verständigung, bevor sie beginnen kann.
Carolin Emcke würde sagen: „Es ist der Versuch, jene Nähe zu sabotieren, aus der Solidarität wachsen könnte.“ Denn wer sich nicht mehr verständigt, kann sich auch nicht verständigen. Und wer nicht mehr versteht, kann nichts bewahren.
Theodor W. Adorno sprach von der „Pflicht zum Begriff“. Diese Pflicht ist heute auch eine Pflicht zur Wirklichkeit. Zur Wahrheit der Daten. Zur Physik, der es egal ist, ob man an sie glaubt.
III. Die Wirklichkeit, die nicht abstimmt
Die Klimaerhitzung ist kein Streitpunkt. Sie ist ein Befund. Ein Thermometer führt keine Kulturkämpfe. Es zeigt nur an.
Die Wissenschaft, dieses großartige gemeinschaftliche Projekt der Aufklärung, ist nicht unfehlbar. Aber sie ist korrigierbar – und genau das macht sie stark. Sie ist der Versuch der Menschheit, sich selbst nicht zu belügen. Der wissenschaftliche Konsens über die Klimakrise ist kein Ergebnis politischer Meinungen. Er ist das Resultat von Messungen, Experimenten und Modellen, die sich gegenseitig korrigieren und bestätigen.
Während Ideologien sich immun machen wollen, indem sie Emotionen mobilisieren, bleibt die Natur unbeeindruckt. Sie reagiert. Nicht auf Debatten, sondern auf Emissionen. Nicht auf Wahlprogramme, sondern auf physikalische Parameter. Es ist die härteste, aber auch gerechteste Form von Wahrheit.
IV. Ein radikales Bewahren nach vorn
Radikal heißt nicht extrem. Radikal heißt: an die Wurzel gehen. Und die Wurzel des Konservativen war nie Autorität, nie Abschottung, nie Ressentiment. Die Wurzel war Verantwortung.
Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff „konservativ“ radikal zurückzugewinnen. Nicht als Ideologie, sondern als Haltung. Radikal konservativ wäre heute:
- das Leben zu schützen, das noch nicht geboren ist – nicht im moralischen, sondern im ökologischen Sinn.
- Heimat nicht als Mythos, sondern als Biosphäre zu verteidigen.
- Zukunft nicht ideologisch, sondern klimatisch zu denken.
- Freiheit nicht als Beliebigkeit, sondern als Verantwortung gegenüber den Bedingungen zu verstehen, die Freiheit erst ermöglichen.
Es ist ein Konservatismus, der nicht zurückschaut, sondern voraus. Nicht bewahrt, was laut ist, sondern was leise ist. Nicht reagiert, sondern schützt.
Bewahren ist kein kultureller Reflex. Bewahren ist ein moralischer Akt. Bewahren heißt nicht, die Vergangenheit zu verklären. Bewahren heißt, die Zukunft nicht zu verraten.
V. Der Mut zum Mitmenschlichen
In einer Zeit, in der Menschenverachtung wieder laut geworden ist, müssen wir etwas tun, das irritierend altmodisch klingt: Wir müssen uns wieder entscheiden. Für das Gute. Für die Mitmenschlichkeit. Für die verletzliche, unvollkommene, aber würdige Gemeinschaft aller Menschen.
Nicht links. Nicht rechts. Sondern menschlich.
Es ist die Radikalität der Menschenrechte, die wir verteidigen müssen. Es ist die Radikalität des Humanismus, die nicht weich ist, sondern wach. Es ist die Radikalität der Empathie, die nicht sentimental ist, sondern politisch.
Die größte konservative Aufgabe unserer Epoche ist nicht, Identitäten zu schützen. Sie ist: die Welt zu schützen, die Identität erst ermöglicht.
Radikal im Bewahren sein, bedeutet: keine Ausreden mehr zuzulassen. Es bedeutet, die Welt nicht aufzugeben, sondern das zu schützen, was uns trägt.
