Radikal in der Demokratie – Die Verteidigung der Herrschaft aller über alle

Demokratie ist ein paradoxes Versprechen. Sie behauptet, die Herrschaft aller über alle zu sein – und kann doch jederzeit in ihr Gegenteil kippen: in die Tyrannei einer Mehrheit über jene, die in ihrer Vorstellung nicht dazugehören.

Dieses Paradox ist eng verwandt mit dem von Karl Popper beschriebenen Paradox der Toleranz: So wie uneingeschränkte Toleranz zum Verschwinden der Toleranz führen kann, indem sie ihre eigenen Feinde duldet, so kann Demokratie jene hervorbringen, die sie abschaffen wollen.

Dieses Paradox ernst zu nehmen, heißt nicht, die Demokratie in Frage zu stellen. Es heißt, sie zu verstehen, sie zu schützen und ihre radikale Komplexität zu verteidigen.


I. Die gebändigte Mehrheit: Warum 51 % nicht alles dürfen

Eine Demokratie ist nicht schon demokratisch, nur weil abgestimmt wurde. Die Vorstellung, die „Mehrheit“ sei gleichbedeutend mit dem „Volk“, ist ein gefährliches Missverständnis – eines, das autoritäre Bewegungen bewusst kultivieren.

Denn Demokratie ist nicht der Triumph der Zahl. Sie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, sondern die Herrschaft aller über alle. Und das ist etwas fundamental anderes.

Die historische Warnung ist eindeutig: Die NSDAP erzielte Mehrheiten und instrumentalisierte demokratische Verfahren. Trotzdem war sie keine Demokratie, sondern ihr radikaler Gegenentwurf. Ein Regime, das – wie Hannah Arendt analysierte – auf der Zerstörung der politischen und rechtlichen Gleichheit aller Menschen basierte.

Wenn eine Mehrheit Grundrechte angreift, spricht sie nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen ihres Ressentiments.

Darum ist Demokratie nie bloß „Mehrheit“. Sie ist gebändigte Mehrheit.

Eine Mehrheit, die sich selbst Grenzen setzt, weil sie begreift, dass Minderheitenrechte keine Einschränkung ihrer Macht sind, sondern die Bedingung ihrer eigenen Freiheit. Diese Selbstbeschränkung ist im Konzept des Verfassungsstaates kodifiziert, der fundamentale Rechte der Entzugbarkeit durch Mehrheitsbeschluss entzieht.

II. Die antike Einsicht: Demokratie ist eine Ethik

Schon als im antiken Griechenland die Demokratie entstand, war das grundlegende Paradox angelegt. Die Athener wussten: Mehrheit allein genügt nicht. Deshalb suchten sie, wie der Politikwissenschaftler Bernhard Manin darlegt, nach Mechanismen wie Losverfahren, die verhindern sollten, dass Macht sich verhärtet.

Schon damals war klar: Demokratie ist mehr als eine Methode der Entscheidungsfindung. Sie ist eine Ethik. Sie ist die kulturelle Praxis, Konflikte durch Diskurs und nicht durch Gewalt zu lösen.

III. Der Verständigungsraum: Warum Demokratie mehr ist als Wählen

Je mehr man Demokratie auf die Mechanik reiner Abstimmungen reduziert, desto anfälliger wird sie für Populisten. Demokratie ist kein Zahlenkampf. Sie ist ein Verständigungsraum.

Sie lebt davon, dass Menschen miteinander sprechen, statt übereinander zu triumphieren. Sie lebt von Kompromissen, nicht von Durchsetzungsfantasien.

Der Soziologe Jürgen Habermas hat diese Idee in seiner Theorie des kommunikativen Handelns als zentral erachtet: Legitime Macht entsteht aus einem herrschaftsfreien Diskurs, in dem der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ wirkt.

Das ist keine technische, sondern eine kulturelle Frage: Eine Demokratie kann nur bestehen, wenn ihre Bürger begreifen, dass ihre Stimme nur zählt, weil die Stimmen der anderen es auch tun. Dass Freiheit nicht bedeutet, dass ich alles darf, sondern dass niemand alles darf.

IV. Die Radikalität der Gleichwertigkeit

Viele Menschen verstehen Demokratie als eine Art politisches Konsumbüffet: Ich wähle, also gehöre ich dazu. Ich habe eine Stimme, also habe ich Recht.

Doch Demokratie ist nicht das Recht, seine Meinung durchzusetzen. Demokratie ist die Verpflichtung, mit den Meinungen der anderen zu leben. Diese Zumutung ist ihr Kern.

Genau diesen Kern lehnen Populisten ab. Sie verkaufen Demokratie als Herrschaft derer, die „recht haben“, nicht als Herrschaft aller über alle.

Radikal in der Demokratie sein heißt:

  • Die Demokratie nicht den Demokraten zu überlassen, sondern den Menschen.
  • Die Rechte derer zu schützen, die nicht stark, nicht laut, nicht organisiert sind.
  • Verantwortung vor Macht zu setzen.
  • Jenen zu widersprechen, die glauben, sie seien das Volk, nur weil sie laut genug „Wir“ schreien.

Die radikale Demokratie beginnt nicht an der Wahlurne. Sie beginnt im Inneren der Gesellschaft: in der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller. In der Weigerung, aus Menschen bloße Mehrheiten zu machen und aus Minderheiten Feinde.


V. Schluss: Die Entscheidung für das Fragile

Demokratie ist kein Naturprodukt. Sie wächst nicht von selbst. Sie entsteht durch beständige Entscheidungen: für das Gespräch, für die Freiheit, für die Gleichheit, für die Selbstbegrenzung der eigenen Macht.

Radikal in der Demokratie zu sein heißt, diese Entscheidungen immer wieder neu zu treffen – auch gegen den Strom der Mehrheit, auch gegen den eigenen Unmut, auch gegen die verlockende Versuchung der einfachen Lösungen.

Es ist ein Radikalismus, der nicht trennt, sondern verbindet. Nicht zerstört, sondern schützt. Nicht herrscht, sondern dient.

Die Demokratie braucht heute keine Helden, sondern Menschen, die verstehen, was sie im Kern ist:

Kein Zahlenspiel, keine Kampfzone, kein Markt der Lautesten. Sondern der fragile, gefährdete und zugleich großartigste Versuch der Menschheit, die Würde aller zu organisieren.


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